Was ist kollektive Handlungsfähigkeit?

von Oliver Marchart
Was ist kollektive Handlungsfähigkeit? Diese Frage, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, ist alles andere als trivial.* Zu dem schweren metaphysischen Ballast, den unser Denken immer noch mit sich schleppt, gehört die hartnäckige Vorstellung, Handlungsfähigkeit wäre eine Eigenschaft vor allem von Individuen. In der Philosophie wurde diese Frage traditionell unter dem Aspekt der persönlichen Willensfreiheit verhandelt. Und noch immer verbinden wir dort den Begriff der Handlung typischerweise mit der freien Intentionalität individueller Willenssubjekte.
Die Soziologie wiederum hat sich eher in die Tradition des Determinismus gestellt und versteht unter Handlung typischerweise ein kollektives Muster habitualisierter Rollenanforderungen. Dieser soziologische Zugang, für den paradigmatisch Bourdieu steht, hat den Vorteil, dass er Handlungsfähigkeit als eine kollektive Kategorie zu verstehen ermöglicht. Aber er hat den Nachteil, dass der Handlungsfähigkeit der Akteure keine Veränderungsmacht zukommt. Die Fähigkeit des Handelns erschöpft sich in der Reproduktion sozialer Klassenrelationen.
Aber ist ein Handeln, das keine signifikanten Veränderungen anstößt und konsequenzlos verpufft, überhaupt Handeln? Was wäre ein Begriff von Handlungsfähigkeit, der Veränderungshandeln miteinschließt?
Und was wäre das Subjekt eines solchen Handelns, wenn es kein intentionales, individuelles Willenssubjekt ist? Das heißt, was wäre ein Kollektivsubjekt des Veränderungshandelns? Und wie wäre unter diesen Vorzeichen das Verhältnis des Individuums zu ebendiesem Kollektivsubjekt zu fassen? Schon diese ersten Überlegungen zeigen, dass nicht ausgemacht ist, was unter kollektiver Handlungsfähigkeit zu verstehen ist. Ja es ist nicht einmal unstrittig, dass so etwas wie kollektive Handlungsfähigkeit überhaupt existiert. Umso wichtiger ist die Arbeit an Begriff und Theorie kollektiver Handlungsfähigkeit.
Rahel Sophia Süß hat diese Arbeit auf sich genommen und befragt drei Theorieangebote, die auf Antwort hoffen lassen: die klassische Hegemonietheorie Antonio Gramscis, deren poststrukturalistische Reformulierung durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, sowie die etwas in Vergessenheit geratene und hier neu zu entdeckende kritische Psychologie Klaus Holzkamps. Dabei lässt sich das Buch als Einführung in die genannten Theorieangebote lesen, es lässt sich aber auch als Entwicklung, im Medium dieser Theorien, einer Reihe von Thesen verstehen, die zu Beginn der Untersuchung vorgeschlagen werden. Diese Thesen sollen hier nicht wiederholt werden. Ich möchte aber doch zwei Thesen hervorheben, denn sie deuten auf etwas hin, das in der Diskussion allzu oft übersehen wird.
Die erste These besagt, dass kollektives Handeln im Sinne eines kritisch-subversiven Eingreifens in die bestehenden Verhältnisse immer ein Experiment darstellen wird. Diese These wurde zu Recht an den Anfang gestellt. Denn sie gründet Handlungsfähigkeit auf dem Grund der Abwesenheit eines letzten Grundes. Wer handelt, bewegt sich auf dünnem Eis. Ein festes Fundament, von dem kollektives Handeln seinen Ausgang nehmen könnte, steht nicht zu Verfügung.
Nach dem Ende der scheinbaren Gewissheiten, die von den emanzipatorischen Großerzählungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verkündet worden waren, ist klar geworden, dass es keine Veränderungsgewissheit geben kann. Deshalb ist jedes Veränderungshandeln im Kern Experiment. Der experimentelle Charakter des Handelns hat aber zur Konsequenz, und das wird in der dritten These angesprochen, dass kollektiver Handlungsfähigkeit nichts notwendig Emanzipatives anhaftet. Veränderung heißt nicht notwendig Veränderung zum Besseren. Handlung heißt nicht notwendig Emanzipation. Und Kollektive sind nicht notwendigerweise progressiv, widerständig oder kritisch.
Eine Theorie kollektiver Handlungsfähigkeit, muss, will sie auf der Höhe der Zeit sein, das Ende aller Garantien berücksichtigen. Handeln ist immer riskant, und Experimente können scheitern. Nichts garantiert, dass wir als Handelnde unsere Ziele erreichen. Die Strecke zwischen Start und Ziel ist voller Umwege, Abzweigungen und Sackgassen. Noch nicht einmal ist garantiert, dass wir am Ende tatsächlich auf der »richtigen Seite« stehen – der Seite, auf der wir zu stehen dachten – und nicht etwa auf der »falschen«. Die Geschichte progressiver Bewegungen ist auch eine Geschichte unintendierter Nebenfolgen. Diese Nebenfolgen sind an vielen sozialen Bewegungen und Gruppierungen zu besichtigen: von den K-Gruppen der 1970er Jahre über die identitätspolitischen Partikularpolitiken der 1980er und 90er Jahre bis hin zu heutigen Neoidentitarismen.
Es gibt keine Garantien, dass soziale Bewegung, ungeachtet ihrer emanzipatorischen Ziele, nicht dennoch Ausschlüsse produzieren, Ressentiments nähren und Gesinnungsterror entfalten. Solche Tendenzen sind immer beglaubigt durch unhinterfragte politische Gewissheiten und eine Binnenkultur ideologischer Selbstüberzeugung (von manchen verklärt zur Behauptung eines »strategischen Essentialismus«).
Erst seit Mitte der 1990er Jahre – beginnend mit den selbstreflexiven Protesten der Zapatistas, dem Aufstieg der Queer-Bewegung und dem deliberativen Protestformat der Sozialforen – hat sich ein neues Verständnis sozialen Protests bemerkbar gemacht, das schließlich in den Protesten des Jahres 2011 einen Höhepunkt fand. Diese anti-hierarchischen Proteste waren tendenziell gekennzeichnet durch Inklusivität, nicht durch Selbstabschließung, durch ideologische Offenheit, Pluralität und Anschlussfähigkeit, nicht durch doktrinäre Linientreue, Parteidisziplin und Kadavergehorsam.
Hier zeigte sich, dass es in den politischen Subjektvierungsformen – und das heißt zugleich: in den Formaten kollektiver Handlungsfähigkeit – zu einer deutlichen Verschiebung gekommen war. Die oftmals identitär formierten Bewegungen früherer Jahre erwiesen sich als ineffektiv und gingen, wo sie sich den Protesten anschlossen, im Strom der Mobilisierung unter. Sie waren abgelöst worden durch Bewegungen, die am treffendsten wohl als post- oder nicht-identitär zu bezeichnen sind. Dieses neue Format ist gekennzeichnet durch eine konstante Bewegung der Selbstbefragung, ja Selbstinfragestellung, die auf das idealtypische Ziel gerichtet ist, selbsterzeugte Hierarchien und Ausschlüsse zu vermeiden oder jedenfalls verhandelbar zu halten.
Die Behauptung ist nicht, dass die Proteste und Besetzungen des Jahres 2011 völlig frei von Hierarchien, Ausschlüssen oder Ressentiments gewesen wären; die Behauptung ist, dass post-identitäre Bewegungen ein Format kollektiver Handlungsfähigkeit entwickelt haben, das solchen Tendenzen entgegenwirkt, anstatt sie zu befördern. In diesem Sinne waren die Proteste durchaus als ein soziales und politisches Handlungsexperiment konzipiert. Eine Theorie kollektiver Handlungsfähigkeit muss diesen aktuellen Formaten des Protests gerecht werden. Das heißt zugleich: sie muss dem Experimentalcharakter kollektiven Handelns gerecht werden, der von den aktuellen Protestformaten geradezu verinnerlicht wurde.
Kollektives Handeln ist ein Experiment ohne Erfolgsgarantie. Das war es immer schon. Heute aber bedeutet kollektive Handlungsfähigkeit, dass diese Handlungsoffenheit in die Formate des Protests selbst eingebaut wird. In der Theorietradition des Pragmatismus würde man an dieser Stelle wohl von einem »demokratischen Experimentalismus« sprechen. Das Buch von Rahel Sophia Süß entwickelt die Theorie dieses Experimentalismus aus der gramscianischen Tradition heraus. Damit trägt es nicht nur zu einem besseren Verständnis aktueller Bewegungs- und Protestformate bei. Es sondiert auch das Terrain der Bedingungen, auf dem kollektives Handeln heute möglich ist.
* Dieser Text ist als Vorwort erschienen in Rahel Süß: Kollektive Handlungsfähigkeit. Gramsci – Holzkamp – Laclau/Mouffe. Turia + Kant, 2015/2016 (zweite veränderte Auflage).