EXPLOSION DER STILLE

//Textmontage zur künstlerischen Intervention EXPLOSION DER
STILLE am 19.10.2017 auf dem Praterstern in Wien
von Claudia Bosse

eine versammlung, eine konstellation von körpern. körper, die den öffentlichen raum durchsetzen, grenzen, zonen überschreiten und über sie hinaus verknüpfen. ihre aufmerksamkeit, ihre konzentration das element der verbindung, als überschreiten von getrenntem. The rhythmanalyst calls on all his senses. He draws on his breathing, the circulation of his blood, the beatings of his heart and the delivery of his speech as landmarks. Without privileging any one of these sensations, raised by him in the perception of rhythms, to the detriment of any other. He thinks with his body, not in the abstract but in lived
temporality.
du nimmst eine position im raum ein
deine position ist dein ort in der gesellschaft
deine position ist deine perspektive (auf andere/s)
du wirst in den nächsten 50 minuten nicht sprechen
Gehen. Stehen. Durchatmen. Ankommen. Einen Bezug herstellen. Ein Netz bilden. Gleichzeitig tragen und getragen werden. Sich auf den Ort einlassen. Teil werden. Den Raum nicht stilllegen, aber dennoch zum Einhalten herausfordern. Ihn injizieren mit etwas Ungewöhnlichem. Stehen direkt
an der Straße, aber niemals still, immer wachsam.
Ich weiß, dass sich am 19. Oktober 2017, zwischen 17 und 18 Uhr, eine Gruppe von 70 und 80 Personen am Praterstern einfinden werden. Ich treffe eine Viertelstunde vor Beginn am Schauplatz ein. Und doch versäume ich den Anfang, weil die Chorteilnehmer den öffentlichen Raum unscheinbar betreten, sich in ihrer Bewegung und in ihrem Äußeren nicht von den Körpern von Passanten und Publikum unterscheiden. Bis sie einen Ort erreichen, an dem sie verharren. Mehr und mehr regungslose Körper stehen im öffentlichen Raum vor dem Haupteingang des Bahnhofs Praterstern. Mein Blick irrt hin und her, entdeckt eine wachsende Anzahl von Regungslosen… eine lose konstellation die weite atmet, anwesend, miteinander einen anderen zeitraum schafft, und sich dem blick der durchgehenden zugleich entzieht, da versprengt und doch verbunden. rhythmus, der rythmus der radfahrer, autos, des eigenen atems, der strassenbahn, verschiedene rhythmen deines körpers. He listens– and first to his body; he learns rhythms form it, in order consequently to appreciate external rhythms. His body serves him as a metronome. A difficult task and situation: to perceive distinct rhythms distinctly,
without disrupting them, without dislocating time.
Ich schließe die Augen, und plötzlich rasen alle Autos auf mich zu. Ich habe Angst, ich stehe offen, ausgeliefert. Einen Tag später. Ich schließe die Augen, und alle Autos rasen auf mich zu. Ich öffne die Augen,
ich habe Angst. Ich mach das nicht.
The rhythmanalyst observes and retains smells as traces that mark our rhythms. He grabs himself in this tissue of the lived,
of the everyday. Einen Tag später. Ich schließe die Augen, und plötzlich höre ich die Autos an mir vorbeifahren und anhalten. Mit geschlossenen Augen werden stehende Autos präsenter als fahrende. Ich habe
keine Angst, ich stehe offen, und ich weiß, dass mir nichts passiert.
The act of rhythmanalysis transforms everything into presences, including the present, grasped and perceived as such. The act does not imprison itself in the ideology of the thing. It perceives the thing in the proximity of the present, an instant of the present, just as the image is another instance. Thus the thing
makes itself present but not presence.
du
beobachtest die rhythmen der stadt
du beobachtest die rhythmen der anderen körper
du entschleunigst die stadt
dein körper ist ruhig und zugleich wach, beteiligt
du schließt deine augen
du hörst den klang der stadt
du öffnest deine augen
du hörst in deinen körper
du beobachtest die stadt
die verbindung der stehenden körper, ihre stille, die diese vielen rhythmen an diesem ort rahmt und ermöglicht zu erfassen. ihr ruhiges stehen, ihre anwesenheit, die diesen raum und die aufmerksamkeiten in ihm verändern, den raum verändern, ermöglichen, aneignen und mit weichen systemen die harten trennungen des aufgeteilten raumes unterlaufen. Ein Mädchen platziert sich auf der Verkehrsinsel, auf der ich stehe. Es ist ihr unangenehm, dass ich so nahe stehe und sie betrachte. Ist es mir unangenehm? Viele Menschen sind auf dem Weg, der in die Praterstraße führt. Manche gehen, manche warten und einige stehen still. Es fällt mir auf, wie viele Leute für ein paar Sekunden innehalten und bewegungslos dastehen. Polizisten, uniformiertes Personal der Verkehrsbetriebe, auf Straßenbahnen wartende Menschen, die Teilnehmer des Chors und die Zuschauer des Chors. Das lässt den Korpus des Chors fast verschwinden. Die Zuschauerkörper vereinigen sich mit dem Chorkörper und blähen das Gebilde der
Regungslosen auf.
Ich höre einen Ton. Ich erhebe meine Stimme. Zunächst leise, brechend, verhalten, dann lauter, voluminöser, weiter, entschlossener, kraftvoll, sicher. Am Rand unseres Netzes, weit weg von den anderen, und
dennoch verbunden, erreicht mich die Stille erst später.
He will come to „listen“ to a house, a street, a town, as an audience listens to a
symphony. Ich halte meinen Ton länger, ich fühle mich frei. Ich öffne die Augen, die Dinge haben sich geändert. Wir stehen an denselben Orten wie
vorhin, am selben Platz, und dennoch ist alles anders.
Die zappelnden Außenhäute des Peripheren zeigen Risse und geben den Blick auf die Konstellationen der Explosion der Stille frei. Die stillen Körper ziehen imaginäre Linien zwischen sich, erzeugen reale Achsen, Flächen, Verhältnisse zu ihrer Umgebung, aktivieren mein Suchauge und führen meinen Körper an Orte, an denen spannungs- geladene Zusammenhänge vermutet und erblickbar
werden. Weitermachen… freue mich auf die kommenden Bewegungen. Suche mit dem Blick die Anderen… hoher Ton… anhalten…anhalten… so ist es gut…der Weg auf die andere ruhigere Position… hier hat man den höheren Ton wahrscheinlich gehört… Die Engelsposition… macht sehr ruhig… ich beobachte
die Anderen vor mir… machen sie die Bewegungen ruhig und gut… Stille fühle ich…
Hewill first have to educate himself (to break himself in or accept training) to work very hard therefore, to modify his perception and conception of the world, of time and of the environment.… die Erfahrung, dass die Explosion der Stille an einem sozialen, ideologischen und politischen Hotspot stattfand – Obdachlose, Dealer, gehetzte Menschen neoliberaler Vereinnahmung, Asylwerber, Vereinsamte, Touristen – sich aber in keinster Weise dieser Elemente bedient hat. Gerade diese offene Haltung, die sich zwar in ihrer künstlerische Formulierung klar manifestierte, aber in den komplexen Verhältnissen von Staat und Individuum sich nicht mit Schlagzeilen bediente, sondern gar nichts Verallgemeinerndes, Meinendes anbot. Außer dem Angebot, sich mit einem Ort für eine Zeit zu
verbinden, an dem man sich sonst nicht verbindet, macht diese Arbeit denkwürdig.
alles kann jetzt passieren zwischen dir und den anderen
stell es dir vor
dein körper ist noch immer noch still
deine füße sind entspannt, dein körper ist entspannt
es könnte einen kampf geben eine orgie eine demonstration
ein ritual
in deiner vorstellung
du denkst darüber nach wer teil von euch ist und wer nicht
du fragst dich wer du bist
Der Blick auf Konstellationen der Stehenden wird plötzlich unterbrochen. Polizisten helfen einem Obdachlosen, ein Ambulanzwagen wird geholt, der mit Blaulicht vorfährt. Der Mann wird medizinisch erstversorgt, davor steht eine Kamerafrau vor einem Fotoapparat auf Stativ, dessen Objektiv
in die andere Richtung weist, in Richtung des Chors der Explosion der Stille.
du veränderst deine perspektive
du veränderst deine position
Eine Tiefenreihung: Vorne die Kamera, die weg von der Szene gerichtet ist, dann die Kamerafrau, daneben die Polizei und der Mann, um den sich der Einsatz dreht, die geöffnete Türe, die den Blick in das Innere des Rettungsautos ermöglicht, und ganz hinten das Chormitglied, das scheinbar unberührt seitlich an der Szene vorbeischaut, die sich direkt vor ihm abspielt, mich anschaut, wie ich meine. He changes that which he observes: He sets it in motion, he recognises its power. In this sense, he seems close to the poet or the man of the theatre. Ich positioniere ab jetzt meinen Körper nicht mehr zu Konstellationen hin, sondern zu den Individuen, die den Chor bilden, mein Blick trifft nicht mehr auf
Komplexe, sondern auf Einzelindividuen, die ich in ihrer Anwesenheit betrachte.
orientiere dich neu im raum
höre den raum aus deiner neuen position
höre in deinen körper
entschleunige den ort
beobachte die menschen die euer gefüge durchkreuzen
schließe deine augen
versuche deinen körper wahrzunehmen während du die
komposition der stadt hörst
The rhythmanalyst will have some points in common with the psychoanalyst, though he differentiates himself from the latter; the differences go further than the analogies. He will be attentive, but not only to the words or pieces of information, the confessions or confidences of a partner or client. He will listen to the world, and above all to what what are disdainfully called noises, which are said without meaning, and to murmurs, fill of meaning – and finally
he will listen to silences.
berühre mit deiner linken hand dein rechtes auge
die hand wandert zum auge
fühle es mit den spitzen deiner finger
taste es ab
spüre wie sich der augapfel unter deinen fingerspitzen
bewegt
öffne dein rechtes auge
Ich beginne, die einzelnen Chorteilnehmer mit ihren jeweiligen Hintergründen zu verknüpfen. Ich verbinde den Performer mit Autos, mit Reklametafeln, mit Rollstuhlfahrern, mit Leuten, die mich aus der Straßenbahn betrachten, wie ich eine Person betrachte. Die reduzierten Bewegungen der Chorteilnehmer – sie verdecken eines der Augen mit der Hand, sie streichen sich langsam über das Gesicht, sie verdrehen ihre verschränkten Arme, sie heben die Ellenbogen, sie drehen sich um ihre eigene Achse, sie bewegen ihren Kopf langsam von der einen zur anderen Seite und observieren ihren Raum – kommen bei meinem intensivierten Anblicken des Individuums zur Geltung. Like the poet, the rhythmanalyst performs a verbal action, which has an aesthetic import. The poet concerns himself above all with words, the verbal. Whereas the rhythmanalyst concerns himself with temporalities and their relations within wholes. Ich muss mein Ohr förmlich in den Becher/Trichter stecken um die Stimme zu verstehen, in den Geräuschen der Stadt, seiner Maschinen, seiner Systeme, seiner Stimmen. Die Nähe führt meine Augen in die Ferne. Ich höre Gegenwarten, die im Futurum erzählt Zuversicht versprechen. Ich höre Vergangenheit, in der die Gegenwart noch vor dem Individuum liegt, welches mir gerade davon berichtet. Die Scham des Blicks ist durch die Stimme aus der Vergangenheit gewichen, der Klang aus dem Trichter ist der eines Objekts, mein Blick trifft im Hintergrund auf Polizisten in ihrem Dienstauto, die an der roten Ampel im Stau stehen. Sie sind Mitspieler in der Erzählung über die Gründung einer Sportgruppe und einer Weltreise. Die Blicke
der Polizisten treffen auf mich, ebenfalls Objekte.
Einer macht die Tür auf, will aussteigen, die Ampel springt
auf Grün, sie fahren weiter.
stehe still und stell dir vor dass dein stillstehen die
ganze stadt still stellt
stehe still und versuche deine eigene stille als den rhythmus
der stadt zu begreifen
als eine voraussetzung eine komposition einen konflikt
stehe still
sei bewegt
in deiner stille
empfinde das vergehen der zeit
explosion der stille




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“EXPLOSION DER STILLE- a silent chorus” war eine künstlerische intervention von claudia bosse mit 80 teilnehmer_innen am 19.10.2017 auf dem praterstern in wien. Die hier veröffentlichte Textmontage reflektiert die Intervention in einer multiperspektivischen erzählung, montiert unter verwendung von texten von günther auer (besucher), ella felber, christine hohenbüchler (beide teilnehmerinnen), henry lefebvre aus „rhythmanalysis“ (theoretiker)
und von passagen aus dem score von claudia bosse (künstlerin).
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