#Kognitariat #Kreativität #Solidarität #Unternehmerischesselbst

Kinship in Solitude
 – Solidarität im (Lumpen-)Kognitariat

von Anna Jehle und Paul
Buckermann

Der Begriff und die Idee von Solidarität ist tief im Mythos der europäischen Moderne verwurzelt und wirkt beizeiten genauso angestaubt wie jene. Den teilweise ritualisierten Solidaritätsbekundungen oder -einforderungen, die wir von technokratischen Gewerkschaftsfunktionär*innen genauso kennen wie von paternalistischen Entwicklungshelfer*innen, wollen wir ein anderes Nachdenken über Solidarität entgegenstellen. Diese Solidarität scheint aufgrund unzumutbarer Verhältnisse zwar eigentlich notwendig und doch ist sie heute in Gänze freiwillig. Sie kann nur im besten Sinne egoistisch sein, wie sie pragmatisch sein muss. Wir sprechen von Solidarität in Verwandtschaftsbeziehungen, die nicht vorbestimmt sind, weil sie den Partikularismus von Blutlinien und regionalen Zwangskollektivierungen ablehnt. Den Rahmen dieser spekulativen Beziehungsgeflechte und solidarischen Verschwörungen bildet dabei der scheinbar ganz individuelle Zustand der Einsamkeit. Dieses Alleinsein, ein Nur-für-sich-Sein, die auferlegte Eigenverantwortung ist unserer Annahme nach ein weit verbreitetes Phänomen, das auf bestimmten Lebens-, Arbeits- und Liebesverhältnissen einer großen Gruppe von Kreativen und Wissensproduzent*innen fußt. Aus diesen Verhältnissen, derer sich ein ganzes Lumpenkognitariat – Freischaffende, Praktikant*innen, Befristete – ausgesetzt sehen, entspringen jedoch, das zeigen wir, Möglichkeiten zu neuen Perspektiven auf Solidarität. Dieses Gefühl der Verbundenheit und darauf bezogene Praxen sind dabei nicht zwangsläufig durch biologische Natur, Geschichte oder

Schicksal festgelegt, sondern können nur durch eine grundlegende Freiheit hindurch zum Ausdruck gebracht werden. Ein Wandel von Leben und Überleben in den letzten drei Dekaden scheint dabei hinter all den Unzumutbarkeiten mindestens noch eine Dimension eröffnet zu haben: Eine verschüttete Verwandtschaft von zwangsindividualisierten Existenzen – eine Kinship in Solitude.

Niemand zweifelt heute mehr an einem grundlegenden und andauernden Wandel der Arbeitswelt in den verschiedenen Ausdrucksformen eines globalen Kapitalismus. Unsicherheit, ein Kreativitätsimperativ und unzählige isolierte Wahrheiten bestimmen dabei aber nicht nur die Sphäre der Lohnarbeit, sondern dringen ebenso in andere Bereiche ein, wenn sich die (Lohn- und Liebes-)Arbeit jederzeit am Smartphone selbst herstellt. Die Zersetzung des Wohlfahrtsstaates, globaler Wettbewerb auf allen Ebenen, Abwanderung der industriellen Produktion in noch ausbeutungsfreudigere Regionen oder gleich in automatisierte Maschinenparks sowie die brachiale Deregulierung von Arbeitnehmer*innenrechten bilden nur die sichtbarsten Grundlagen solcher Entwicklungen. Eine Bildungsexpansion, das Anwachsen des Dienstleistungs- und Kreativsektors, digitale Informationsströme sowie immer mehr Ansprüche an die selbstverantwortliche Verwaltung der eigenen Person sind weitere Gründe und

Konsequenzen dieser Entwicklungen. Dass in einschlägigen Analysen angesichts solcher zivilisatorischen Verschiebungen Kunst und besonders den scheinbar autonomsten Sphären dieses Produktions- und Diskursbereiches eine dominante Rolle zugeschrieben wird, vermag bei einem zweiten Blick nicht zu verwundern. Kreativität bzw. die rastlose und endlose Schaffung von Neuem sind semantische Figuren einer modernen Kunst, die Hand in Hand gehen mit einem Künstler*innenmythos, der seit dem Auftreten des Bohemiens von unregelmäßigen Einkommensverhältnissen und einem hedonistischen Lebensstil geprägt ist.[1]

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Die Richtung wird uns in Ausbildung, Kulturproduktion und Konsummöglichkeiten vorgegeben: Wir haben unsere Karrieren, unsere ganze Individualität, unsere eigene Zukunft selbst in der Hand. Diese Freiheit, aber auch der ganze Druck von Erfolg oder das Versprechen von Glück sind heute auf jede*n Einzelne*n gelegt. Individuelle Kreativität scheint – auch für die*den Nichtkünstler*in – zum gesamtgesellschaftlichen Imperativ geworden zu sein. Dieser indirekte Druck zu einer immer ausgefeilteren Persönlichkeit verdichtet sich sodann mit ganz unmittelbaren, toxischen Arbeits(losigkeits)verhältnissen, erdrückender Selbstständigkeit, zerfressender Zeitarbeit, kruden Werkverträgen sowie befristeten Forschungs- und Kulturprojekten zu einer Gemengelage, die massenhafte Zustände der Einsamkeit und Erschöpfung[2] produziert: Einsam und ohne Galerieverbindung nach dem Abschluss an der Kunsthochschule; einsam und arbeitslos nach dem x-ten wissenschaftlichen Drittmittelprojekt; einsam zwischen zwei stumpfen Grafikjobs für nachbarschaftliche Kleinstunternehmen; einsam am nächsten Textmanuskript für irgendeine belanglose
Zeitschrift; einsam und frustriert vor dem nächsten Pitch für eine peinliche Limonadenkampagne. Zurückgeworfen auf sich selbst, verantwortlich für das ständige Vortäuschen vom Neuem und Verwertbarem[3], arbeiten wir als Ich-AGs oder „freie“ Autor*in / Aufbauhelfer*in / Berater*in / Fotograf*in / Grafiker*in / Künstler*in, usw. Dass diese Freiheit selbstredend immer noch einen dezidiert kapitalistischen Doppelcharakter haben muss, wissen wir seit Karl Marx. Die Zugehörigen des neuen „Kognitariats“[4] können zwar ihre kreativen Potenziale frei auf dem Markt der Möglichkeiten anbieten; sie sind aber gleichzeitig dazu gezwungen, weil sie ebenso frei sind von den Ressourcen, um ihren eigenen Wünschen nachzugehen.

Zu dieser Freiheit von Mitteln zur Verfolgung der eigenen Bedürfnisse haben sich nun noch ganz andere Freiheiten gepaart. Nach dem sogenannten Ende der Geschichte, dem Tod des Autors, der Ablösung der Kunst der Moderne und der Zersetzung oder gar
faktischen Pervertierung der großen Erzählungen von Vernunft oder Fortschritt scheinen die zeitgenössischen Subjekte vielmehr einer „Freiheit von allem“[5] ausgesetzt zu sein. Diese negativen Freiheiten von erdrückenden sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Normen, aber auch von sozialstaatlichen Grundleistungen oder arbeitsrechtlicher Absicherung sind keine Phänomene, die sich global für alle Menschen gleich zeigen. Und doch, diese Wendung von einem positiven Freiheitsbegriff (Freiheit zu/auf) – der sich noch in Menschen- und Bürgerrechten zumindest formal verdichtete – hin zu einer Freiheit von rechtlichen und sozialen Absicherungen fällt in immer mehr Bereiche der Gesellschaft. Blicken wir genauer auf die weiten Bereiche der Kreativen, Künstler*innen und Wissensarbeitenden, scheint diese negative Freiheit mehr als augenscheinlich. Umsonst-Arbeit, befristete Projektformate und Praktika sind die Oberfläche einer Freiheit von Sicherheit, Planungsmöglichkeiten oder finanziellen Ressourcen. Mit diesen biografischen und finanziellen Krisenmotoren paaren sich dann noch die Folgen einer Freiheit von Leitbildern, Wahrheiten oder Planung – der Neuheitsdruck in einem flimmernden Diskurs über unzählige legitime Stilrichtungen, Theorien oder künstlerische Formen.

Die Einsamkeit, von der wir schreiben, stellt sich gerade über diese Freiheiten von Sicherheit, Orientierung und sozialen Banden sowie der Freiheit zur eigenständigen Wahl von Beruf, Lebensort und Familie her. Besonders gilt dies unserer eigenen Einschätzung nach für die riesige Gruppe von Umsonst-Arbeiter*innen und Selbstständigen, die den gesamten Sektor der kulturellen Produktion fast unsichtbar durchfließen und stützen[6]. Eine Freiheit von partikularer (Familien- oder Stammes-)Verwandtschaft gehört dann ebenso zu diesem Bild, wie die Freiheit von klaren Klassenstandpunkten. Genau in dieser Ambivalenz von negativen Freiheitsbildern sitzen unsere Überlegungen über Potenziale für neue solidarischen Verbindungsparadigmen. Diese Verbindungen, diese Wahlverwandtschaften, sind nach der Zersetzung klassischer Zuweisungs- und Kollektivierungsformen in höchstem Maße freiwillig und pragmatisch. Die Einsicht in die Existenz eines Kognitariats, dieser zersplitterten Menge von einsamen Existenzen, muss dabei nicht als ein Weg zu einem neuen Klassenbewusstsein interpretiert werden. Wir wollen hingegen über die Besonderheiten und Potenziale für eine neue Perspektive auf Solidarität nachdenken. Wir vermuten, dass in den von uns dargestellten Sphären noch ganz andere Möglichkeiten für Solidaritäts- und Verwandtschaftsbeziehungen stecken, als eine schlichte Iteration des materialistisch Immer-schon-gewussten.

Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen skizzierten Entwicklungen ziehen? An was kann appelliert werden, wenn es nicht darum geht, einem fiktiven, idealen Zustand der Gemeinsamkeit nachzueifern? Beinhaltet Solidarität nicht immer die Möglichkeit, in flexiblen Größenverhältnissen zu denken? Was bedeutet eine stete zwanghafte

Reaktion von Kunst auf einen „permanenten Zustand der Krise“ für diese Spekulationen? Besiegelt die Kunst nicht genau in dieser reaktiven Geste ihre eigene Unmöglichkeit, Zukünfte zu formulieren, anstatt eine hyperbolische Erweiterung der Gegenwart zu sein, die zwischen sozialer Relevanz, Offenheit und Unverbindlichkeit changiert? Welche Möglichkeitsräume eröffnen sich in dem vielfachen Dasein in atomisiertem Horror, in der Freiheit von Solidarität und bei doch vermutlicher Verwandtschaft in Einsamkeit?

In einer Zeit, in der ein solcher Zustand der Krisen und Katastrophen permanent medial vermittelt wird, scheint eine Befragung potentieller Verwandtschaften und deren Potentiale angebracht. Kunst und Kunstproduktion kann dabei als erste Adresse für genau solche Erforschungen erscheinen, da Künstler*innen sich in den letzten Jahren vermehrt sozialen, politischen und edukativen Praxen zuwenden, die traditionell außerhalb ästhetischer Praxen verortet werden. Dieses zugeschriebene Potenzial für die Schaffung von Neuem, von kreativen Lösungen, haben wir bereits angesprochen und wir zweifeln selber wenig daran. Allerdings verwundert uns gleichermaßen die Reibungshitze von genau diesen Ansprüchen und dem gleichzeitigen Darben in prekären Produktions- und Lebensbedingungen. Die kritische Auseinandersetzung mit Institutionen, Ideologien und Diskriminierungsstrukturen findet eben meist in genau den Museen, Zeitschriften, Galerien, Hochschulen, Bildungsprojekten und Festivals statt,

welche die institutionelle Ökologie der kritisierten Missstände sind. Aber welche andere Wahl bleibt Produzent*innen, die außerhalb dieses Rahmens nur schwer eine Öffentlichkeit herstellen können? Welche anderen Formen finden sich nun für die Kreativen am Abgrund der Existenzwahrung von zersplitterten Selbstunternehmen?

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Zunächst wollen wir über den Rahmen und die Orte für andere Kollaborationen und Pakte nachdenken. Wir wissen, dass ganze gesellschaftliche Felder der Kultur- und Wissensproduktion, die weit über die Disziplin der bildenden Kunst hinausgehen, von einer Horde an Kreativmaschinen ermöglicht werden. Diese Felder vereint die Vorstellung, dass kreative Potenziale einem Mangel entspringen, was sich sowohl auf altbekannte Vorstellungen eines vereinsamten und verarmten Künstlergenius zurückführen lässt, als auch sich in einem neuen Typus von (Künstler*innen als)
Start-Up-Unternehmer*innen oder Creative Consultant ausdrückt. Die beiden Pole bedienen offensichtlich einen normativen Mythos der Kreativität als freiwillige Notwendigkeit, in dem Arbeit und Leben in einer Vorstellung des Lebens als Risikokapital verschmelzen.

Über die kulturelle Kompetenz der ständigen Produktion um der Produktion willen („weil aus Leidenschaft“), die unaufhörliche (minimale) Differenzierung durch den Zwang zum Neuen, kann eine neue Perspektive eröffnet werden: Die interne Verfasstheit
dieser expandierenden Gruppe von Produzent*innen, die vermeintlich nichts als ihre kreativen Potenziale besitzen, zeigt, dass zwar eine ganz eigene und abgeschlossene Welt für jede*n Einzelne*n besteht, diese Welten sich aber gerade durch die Verwandtschaft in Einsamkeit verbinden lassen. Diese Einsicht kann ein erster Schritt sein, um über intellektuelle und praktische Fluchtlinien von Solidarität nachzudenken, wobei eine affektive Forderung nach dem Bewusstwerden einer Klassenverfasstheit unserer Meinung nach nicht ausreichen kann. Jegliche Analyse einer kreativen Klasse an sich und für sich würde nämlich von der Einsicht ablenken, dass es nicht nur um das Phantom einer gänzlich neuen digitalen Boheme in einer Handvoll globaler Städte geht und dass die Idee jeglicher Notwendigkeit (mindestens) in diesem Fall als Freiheit gedacht werden muss.

Das Anliegen kann nicht sein, sich die idealen Bedingungen für Solidarisierungsprozesse herbeizuwünschen, sondern es muss auf einen Perspektivwechsel auf bereits vorhandene Bedingungen abzielen, um Potenzialitäten zu erkennen. In Verbindung zu Anderen verweist Solidarität in diesem Sinne auf die schlichte Ermöglichung freiwilligen Sprechens und Handelns. Damit ist keine Gemeinsamkeit gemeint, die ein Hinwegsetzen über Differenzen verlangt und nur Identisches als Grundlage von Verbindung sieht. Die kleinsten Operationen, um Gemeinsamkeit herzustellen und auszudrücken, sind daher zuerst freiwillige, unilaterale Handlungen, die nicht durch Reziprozität und historische Notwendigkeit bestimmt sind. Die Freiwilligkeit dieser Verwandtschaft in Einsamkeit verweigert sich einer festen Rollenzuschreibung für Einzelne oder Gruppen, wie sie in einem Verständnis von Solidarität als reines Fürsprechen für Benachteiligte praktiziert wird. Eine solche andere Verwandtschaft ergibt sich aus der Einsicht, dass viele nicht durch Einsamkeit an sich leiden, sondern wir alle durch eine besondere Einsamkeit unter den gegebenen, geteilten Bedingungen. Zu guter Letzt zeigen uns die Überlegungen zu positiven sowie negativen Freiheiten ja gerade, dass wir uns frei von einer historisch-zwingenden Verantwortung wähnen, obwohl die Verhältnisse eigentlich das Gegenteil verlangen und ermöglichen. Jede freiwillige Solidarität würde sich gerade deshalb als ganz „atemberaubend“ darstellen.

Dieser Text ist eine leicht gekürzte Fassung des Einleitungsessays von Kinship in
Solitude. Perspectives on Notions of Solidarity, herausgegeben von Artists Unlimited, Anna JehlePaul Buckermann. 2017, Hamburg: adocs. Mit Beiträgen von Jochen Becker, Nanna
Heidenreich, Peter Hermans, Rahel Jaeggi, Alexander Koch, Ana Teixeira Pinto, Arkadiusz Półtorak und Marcus Steinweg. Für 23€ bestellbar.


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Begleitet wird der Textband Kinship in Solitude von der Künstler*innenpublikation Archiv Klaus-Dieter Braun. Mitglieder der Künstler*innen und Residency Initiative Artists
Unlimited in Bielefeld widmen sich Fragen nach (ihrer) Gemeinschaft durch ein nicht-aufgearbeitetes, eklektisches Alltags-Archiv von über dreißig Jahren (1985 – 2017) mit mehr als 25.000 Fotografien über das Leben bei Artists Unlimited. Die verwendeten Bilder stammen vom Künstler und Gründungsmitglied Klaus-Dieter Braun, der bis heute im Verein aktiv ist.

Anna Jehle ist als freie Kuratorin tätig und lehrt an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.

Paul Buckermann ist Soziologe an der Universität Luzern (CH) und forscht zu Quantifizierungstendenzen im Kunstbetrieb.

[1] So dann auch der Befund von Andreas Reckwitz, 2012, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

[2] Alain Ehrenberg, 2015, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der
Gegenwart (frz. Original 1998). Frankfurt/Main: Campus. Siehe auch Mark Fisher, 2009,
Capitalist Realism. Is there no Alternative?, London: zero books.

[3] Siehe auch McKenzie Wark, 2004, A Hacker Manifesto, Cambridge, Harvard University Press.

[4] Franco Bifo Berardi, 2005, What Does Cognitariat Mean?, Cultural Studies Review 11(2).

[5] Hito Steyerl, 2013, Freedom from Everything: Freelancers and Mercenaries, e-flux 41.

[6] Steyerl, Hito, 2010: Politics of Art: Contemporary Art and the Transition to Post Democracy, e-flux 21.

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